09.08.2024, 12:51
Nach 14 Toren im Viertelfinale will er jetzt eine Medaille
Renars Uscins war nach dem Viertelfinalkrimi gegen Frankreich der gefeierte Matchwinner. Nun will der 22 Jahre alte Linkshänder den Traum von einer Olympia-Medaille wahr machen.
Rune Dahmke brachte es nach dem Wahnsinn im Viertelfinale auf den Punkt. "Wer anders als Renars Uscins schießt uns in die Verlängerung?", fragte der Linksaußen am Mittwoch (7. August) und nach den 70 irren Minuten im Stade Pierre Mauroy musste man Dahmke einfach recht geben: Wer anders als Renars Uscins hätte es machen sollen?
Entsprechend ähnlich klang auch Kapitän Johannes Golla. "Er haut die Siebenmeter rein. Er macht das Tor in der 60. Minute zur Verlängerung, das letzte Tor, die entscheidenden Tore. Es ist crazy, was er macht", lobte der 26-Jährige seinen Mitspieler.
Und der umjubelte Matchwinner selbst? Der staunte auch. "Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, dass ich in so einen Flow gerate", erklärte er mit einem Grinsen. "Ich habe gefühlt alles vergessen drumherum, was passiert, was ist. Ich habe vergessen, wie wichtig die Würfe sind - einfach, weil ich so im Flow war und überzeugt war, sie reinzumachen."
Gerade die 100-Prozent-Quote vom Siebenmeterpunkt war beeindruckend, wenn man bedenkt, dass er vorher in seiner Profikarriere eigentlich (noch) nie von der Linie antrat. "Ich habe gesehen, dass die anderen vielleicht ein wenig verunsichert waren und dann habe ich in der Situation gesagt: Ich nehme den Ball und bin selbstbewusst, ihn reinzumachen", sagte Uscins.
Marko Grgic und Juri Knorr waren zuvor zusammengerechnet dreimal an Vincent Gerard gescheitert, Uscins haute dem Franzosen die Bälle um die Ohren. "Die Torhüter hatten keine Wurfbilder von Siebenmeter von mir, was vielleicht ein bisschen geholfen hat", lachte der Linkshänder. "Ich wollte ihn ein bisschen verladen mit meinen Arm, weil Gerard nicht wusste, was kommt."
Mit Erfolg - und die französischen Fans wurden leiser, je öfter Uscins traf. "Es war eine riesige Atmosphäre", strahlte der Linkshänder. "Wenn die Franzosen einen Lauf hatten, dann wurde es richtig laut. Es sehr viel Spaß gemacht, die Leute gegen uns zu haben - und das Schönste an so einer Halle ist es, sie zum Schweigen zu bringen."
Das gelang: Mit insgesamt 14 Toren warf Uscins die deutsche Mannschaft ins Halbfinale des Olympischen Turniers, wo am heutigen Freitag (16:30 Uhr) die nächste Topnation wartet. "Spanien ist ein sehr abgezocktes Team. Das wird genauso ein riesiger Kampf, den wir erst einmal überstehen müssen", blickte Uscins unmittelbar nach dem Viertelfinale voraus und betonte: "Wir müssen denselben Kampf zeigen wie heute, sonst spielen wir ganz schnell um Bronze."
Trotz seiner erst 22 Jahre kennt Uscins bereits beide Perspektiven nach einem Halbfinale: Mit der Junioren-Nationalmannschaft gewann er vor einem Jahr ein wichtiges Halbfinale und sicherte sich anschließend die Goldmedaille bei der U21-Weltmeisterschaft im eigenen Land. Und mit den Männern verlor er erst vor wenigen Monaten im Halbfinale der Heim-Europameisterschaft gegen Dänemark und musste sich anschließend mit dem undankbaren 4. Platz zufrieden geben.
Junioren-Weltmeister, Heim-Europameisterschaft, Olympia-Halbfinale: Das sind die vielleicht wichtigsten Meilensteine im steilen Aufstieg, den Uscins in den vergangenen zwölf Monaten hingelegt hat. Die Grundlagen, das stellte Uscins nach dem Viertelfinale klar, wurden im Verein gelegt. Im Sommer 2022 wechselte er vom SC Magdeburg, wo er an der Sportschule ausgebildet worden war, zur TSV Hannover-Burgdorf.
Der Schritt hatte sich bereits angedeutet: Im Frühjahr 2021 hatte der SC Magdeburg Uscins an den Bergischen HC ausgeliehen, dort schnupperte er erstmals Bundesligaluft. "Ich musste beim BHC anfangs in jedem Training 150 Prozent geben, um überhaupt mithalten zu können, doch mit jedem Einsatz habe ich gesehen, das ich tatsächlich das Potenzial habe, dass die Ansätze da sind", sagte er damals gegenüber Bock auf Handball.
Als frisch gebackener U19-Europameister kehrte Uscins nach seiner Zeit beim BHC zum SC Magdeburg zurück, doch wurde dort er ausschließlich in der Reserve eingesetzt. "Mein Wunsch wäre jedoch, dass ich in der ersten Mannschaft mittrainieren darf, um mich weiterzuentwickeln", verriet er damals. „Diese Chance gab es bisher nicht. Mein Vertrag läuft im Sommer aus, dann werde ich den Verein wohl verlassen, denn ich will den Weg in die Bundesliga gehen.”
Gesagt, getan: Uscins ging nach Hannover, die in Christian Prokop einen Trainer haben, der sich der Förderung junger Spieler verschrieben hat. Im ersten Jahr habe er schon "viel Spielzeit bekommen, im zweiten dann sowieso", fasste Uscins in Lille seine Entwicklung zusammen. "Ich habe versucht, besser zu werden, in dem ich meine Spiele auswerte und viel mit Christian spreche." Der Linkshänder betonte ausdrücklich: "In Hannover wurde die Grundlage für das jetzt gelegt."
Selbstverständlich sei diese Entwicklung nicht - gerade nicht in der Nationalmannschaft. "Ich habe nach der Junioren-WM gar nicht damit gerechnet, dass ich so einen festen Platz habe", zeigte sich Uscins bescheiden. "Das ist die disziplinierte Arbeit; immer bei sich zu bleiben." Bereits bei der Europameisterschaft im Januar trumpfte er auf, nun ist er endgültig die erste Wahl im rechten Rückraum. Routinier Kai Häfner saß gegen Frankreich 70 Minuten auf der Bank.
Und so spielte, kämpfte und traf Uscins vor 27.000 Zuschauern gegen den Gastgeber. "Er hat so eine gewisse Unbekümmertheit, macht sich nicht so viel Kopf und geht mit Selbstvertrauen rein", hob Kapitän Golla hervor. "Renars ist das ganze Turnier ein Faktor bei uns." Auch Dahmke adelte den jungen Linkshänder: "Vom ersten bis zum letzten Spiel ist er unglaublich."
Mit seinem Treffer in die Verlängerung hat sich Uscins bereits jetzt einen Platz im kollektiven deutschen Handball-Gedächtnis gesichert. "Wir wussten alle, dass es schwierig ist, das Spiel auf Unentschieden zu stellen, aber wir haben einfach an die sechs Sekunden geglaubt und dafür wurden wir belohnt", lachte der Linkshänder und gab zu: "Ich habe gar nicht mitbekommen, wie es passieren konnte, dass wir den Ball haben. Ich bin einfach nur nach vorne gesprintet, habe den Ball bekommen und auf Tor geworfen."
Dass er in den 70 Minuten auch immer wieder unsanft auf dem Boden landete, weil ihn die französische Abwehr zu stoppen versuchte, lächelte er weg. "Das gehört zu meiner Spielweise", erklärte er. "Klar tut das weh, aber wenn man Adrenalin im Körper hat, dann vergisst man die Schmerzen. Die Blessuren gehören zu unserer Arbeit dazu."
Nur einmal reichte es dem 22-Jährigen: Nach einem Foul von Dika Mem sprang er wütend auf und geriet mit dem Franzosen aneinander. "Ich bin auf den Boden gefallen und habe gespürt, dass er mich mit dem Knie oder Arm noch gegen den Boden drückt", erzählte Uscins anschließend. "Wie man sehen konnte, fand ich das absolut nicht okay, nicht sportlich und da war ich sicherlich zu recht sauer."
Es sei ihm in dem Moment egal gewesen, "ob das Dika Mem ist oder jemand anders [ist], das gehört absolut nicht in unsere Sportart und das wollte ich ihn auch wissen lassen", so der junge Linkshänder. "Dass ich zwei Minuten bekomme habe, war ärgerlich, weil es der Mannschaft geschadet hat, aber am Ende ist es egal, weil wir gewonnen haben."
Zwei Spiele haben Uscins und seine Teamkollegen noch vor der Brust - nach dem heutigen Halbfinale gegen Spanien folgt das Finale um Gold (13:30 Uhr) oder das kleine Finale um Bronze (09:00 Uhr) am Sonntag, dem letzten Tag der Olympischen Spiele. "Ich bin jetzt erst einmal glücklich, dass wir in der Lage sind, um Medaillen zu spielen", erklärte Uscins am Mittwoch noch, bevor er Richtung Kabine verschwand. "Jetzt wollen wir den Flow mitnehmen und Spanien auch bezwingen."
jun