28.01.2024, 12:24
Der unglaublich Treffer von Elohim Prandi im Halbfinale bewegt die Handball-Szene
Der direkte Freiwurf von Elohim Prandi erregte auch einen Tag nach dem Halbfinale der Handball-EM zwischen Frankreich und Schweden die Gemüter. Die Franzosen feierten den Wurf, die Schweden waren fassungslos und legten Protest ein. Was bleibt, ist eine große Debatte und viele Fragen.
Es gibt im Handball immer wieder Momente, die im kollektiven Gedächtnis hängenbleiben - und so mancher hat sich in Köln ereignet. Der Kempa von Markus Baur auf Dominik Klein im Halbfinale der WM 2007. Der letzte Siebenmeter von Hampus Wanne im Champions-League-Finale für die SG Flensburg-Handewitt. Und seit Freitag gehört auch der direkte Freiwurftreffer von Elohim Prandi in diese Galerie der besonderen Handball-Augenblicke.
Auf der einen Seite, natürlich, weil es ein unfassbarer Wurf war. "Das ist die Art von Wurf, die er zu Hause im Training ein paar zehntausend Mal ausprobiert hat, aber wenn man in einer solchen Situation rational ist, weiß man, dass die Chance, immer noch eins zu tausend ist", sagte Frankreichs Trainer Guillaume Gille nach dem Abpfiff bei BeIN Sports. "Er hat dieses Tor gemacht, als wir halb tot waren. Ich glaube, es stand geschrieben, dass es heute Abend passieren sollte."
Die französische Handball-Legende Nikola Karabatic erlebte den Treffer als "Explosion der Freude", wie es der Routinier ausdrückte. "Als es am Ende den Freiwurf gab, stand ich neben Kentin und Valentin (Kentin Mahé und Valentin Porte, Anm. d. Red.) und sagte zu ihnen: "Hört mir zu: Elo wird treffen, ich bin ganz sicher. Ein bisschen positives Denken und wir haben dieses fantastische Tor bekommen. Es ist ein Wunder."
Spielmacher Kentin Mahe zollte seinem Mannschaftskollegen einfach nur Respekt. "Am Anfang hatte ich das Gefühl, dass er gesprungen sei", gab der Regisseur zu.
"Aber nachdem ich mir das mehrmals angeschaut hatte - ich habe mir das 15 Mal angeschaut, kopfschüttelnd, wie das geht - denke ich: Das ist so ein magischer Moment, den kannst du nicht zurücknehmen", so Mahe. Selbst Schwedens Torhüter Andreas Palicka, der wie Prandi bei Paris Saint-Germain spielt, sprach von "einem unglaublichen Tor."
Der Schütze war einfach nur stolz. "Für mich ist das ein großer Moment in meiner Karriere", betonte Elohim Prandi, der beim Mediengespräch am Ruhetag zwischen Halbfinale und Finale der Handball-EM wenig überraschend der gefragteste französische Gesprächspartner war.
"Die Wand vor mir analysiert" habe er, beschreibt der Franzose die Szene aus seiner Sicht. "Sie war im Verhältnis zur Entfernung etwas hoch. Ich habe die Fähigkeit, meine Bälle hochzuziehen, und ich vertraue meinem Wurf. Ich habe mich ein wenig verschoben. Danach kann man sagen, was man will, dass ich mich hinlege, das Tor ist da, es wurde bestätigt", so Elohim Prandi.
Und genau das - die Bestätigung des Tores - ist der Knackpunkt. Das ist die andere Seite dieses besonderes Augenblicks: die Diskussionen, die sich direkt anschließend entzündeten.
Denn die große Frage ist: So schön der Freiwurf auch war - war der Treffer regelkonform?
Diese Debatte hat zwei Stränge, die in den 36 Stunden seit dem Freiwurf mit Verve diskutiert wurden - von den Spielern, den Fans und den Medien.
Schütze Elohim Prandi hat, wenig überraschend, eine klare Meinung. "Ich denke, das war ein regulärer Treffer. Was ich mit meinen Füßen gemacht habe, ist vom Regelwerk gedeckt", betonte der Franzose wiederholt. Auch Jürgen Scharoff, der langjährige Regelexperte des Weltverbandes IHF, war sich sicher, dass der Treffer regelkonform ist (hier nachzulesen).
Die Schweden sahen das verständlicherweise anders. Barcelonas Jonathan Carlsbogard zollte Prandi zwar für den Wurf Respekt ("Das ist natürlich krank, wie er den Ball von da reinschießt"), bezeichnete die Entscheidung der Unparteiischen jedoch als "leider falsch".
Auch für diese Sichtweise gibt es Anhaltspunkte: Ein Standbild, das die Fotoagentur Imago nach dem Spiel veröffentlichte (siehe unten), zeigt Prandi genau im Moment des Wurfs, den Ball noch in der Hand, die rechte Fußspitze am Boden, aber den linken Fuß bereits vom Boden abgehoben.
Laut der Auslegung von Regelexperte Scharoff ist das irrelevant, da ein Fuß weiterhin den Boden berührt. Interpretiert man die Regel 15 jedoch anders - und legt sie so aus, dass unterunterbrochen derselbe Fuß den Boden berühren muss - hätte der Treffer nicht zählen dürfen, weil Prandi den linken Fuß hob, bevor der Ball die Hand verlassen hat.
Für den Schiedsrichter, der gemäß der Anweisungen an die Unparteiischen für solche Situationen auf der Wurfarmseite stand, war das in dem Augenblick nicht zu erkennen, da er nur den seitlichen Blick in die Szene hatte, was es unmöglich macht, Wurfarm und Fuß gleichzeitig im Blick zu behalten.
Eine Option, um die Szene von außen zu beurteilen, wäre der Videobeweis gewesen - und genau das ist der zweite Debattenstrang, der gerade in Schweden nachdrücklich verfolgt wurde: Warum verzichten die Schiedsrichter auf die Kontrolle der Bilder, um sicherzugehen?
"Das ist so entscheidend, das ist so wichtig. Ich kann es nicht verstehen", ärgerte sich Schwedens Kreisläufer Max Darj. Auch Trainer Glenn Solberg konstatierte: "Jeder, der das Spiel gesehen hat, hat gesehen, was passiert ist. Es sind viele große Fehler passiert."
Damit spielte der Trainer nicht nur auf den letzten Freiwurf an, sondern auch den vermeintlichen Schrittfehler von Jim Gottfridsson, der abgepfiffen wurde, sowie ein mögliches Stürmerfoul des Franzosen Dika Mem, das nicht geahndet wurde.
Nach dem verlorenen Halbfinale legten die Schweden Protest ein, der sich laut EHF "auf die Nichtverwendung der 'Video Review' (VR) zur Überprüfung des letzten Freiwurfs für Frankreich in der 60. Minute des Spiels" bezogen habe. Dieser wurde am Samstag abgelehnt, weil es nicht verpflichtend sei, "die VR-Technologie einzusetzen."
EHF-Präsident Michael Wiederer bezeichnete die Entscheidung der Schiedsrichter, nicht auf den Videobeweis zurückzugreifen, am Samstag jedoch als "klaren Fehler". "Die Schiedsrichter hätten sich das Video ansehen sollen", sagte Wiederer.
Der Präsident der European Handball Federation warb aber zugleich um Verständnis. Das Spiel werde "immer schneller und schneller" und habe sich "technisch und von der Geschwindigkeit her enorm" entwickelt: "Es ist eine große Herausforderung für die Schiedsrichter."
Dennoch wollte er diesen Fehler sowie zwei weitere Fehlentscheidungen im Turnierverlauf, bei denen der Videobeweis fälschlicherweise nicht eingesetzt worden war, nicht kleinreden. Es sei "nicht möglich, Fehler in der Zukunft zu vermeiden, aber wir tun alles, um sie zu minimieren“, so der Verbandschef.
Als eine Möglichkeit wurde die Idee der bereits getesteten Coaches Challenge in den Raum geworfen. "Die Möglichkeit, eine Challenge zu nehmen, wäre schon eine gute Entwicklung", sagte Solberg. Doch selbst, wenn es diese Option theoretisch gegeben hätte: Da Solberg seine drei Auszeiten schon gezogen hatte, hätte er keine Überprüfung mehr fordern können. "Gestern hätte der Coach eine Challenge auch nicht nutzen können", sagte auch Wiederer.
Die Schweden verzichteten auf eine Berufung zu dem abgelehnten Protest, sie wollen die Sache aber auch nicht auf sich beruhen lassen. "Wir müssen deutlich machen, dass wir dies in Zukunft nicht mehr akzeptieren werden", so Frederik Rapp.
Der Präsident des Schwedischen Handball-Verbands kündigte an: "Wir werden jedoch nach der Europameisterschaft die Angelegenheit weiterverfolgen und ein offizielles Schreiben an die EHF richten, um die Regeln zu ändern, damit sie klarer werden und dem Handball zu einer noch besseren Entwicklung verhelfen."
Was am Ende dabei herauskommt, ist aktuell offen. So gehen die Schweden mit viel Frust in ihr Spiel um die Bronzemedaille gegen Deutschland (15:00 Uhr). Und ein französisches Team, das nach dem "magischen Moment" (Mahé) von Prandi gegen Dänemark um den EM-Titel spielen wird (17:45 Uhr).
"Wir werden in dieser Riesenarena spielen, gegen Dänemark und wohl auch einen Großteil des Publikums. Ich spiele Handball für diesen Moment", fiebert Elohim Prandi dem Goldmatch der Handball-EM entgegen. Er ist sich sicher: "Das wird ein weiterer großer Handball-Moment."
jun