20.01.2024, 14:42
Zwei knifflige Situationen in der Crunchtime
Weltmeister gegen Titelverteidiger: Das Spiel zwischen Dänemark und Schweden war der Höhepunkt in der Hauptrundengruppe in Hamburg. Nach dem Abpfiff standen die letzten 20 Sekunden im Fokus und sorgten für heiße Debatten. Der langjährige IHF-Regelexperte Jürgen Scharoff ordnet die beiden Entscheidungen für handball-world ein.
In ihrem letzten Angriff des Spiels erhielten die Dänen bei passiven Vorwarnzeichen einen Freiwurf und spielten Magnus Landin frei. Der Linksaußen traf, die Schweden protestierten vehement und die Schiedsrichter griffen auf den Videobeweis zurück. Danach fiel die Entscheidung: Kein Tor. Zudem wurde die Spielzeit auf 59:43 zurückgestellt.
Für Jürgen Scharoff steht fest: Die Entscheidung, das Tor nicht zu geben, ist korrekt: "Das passive Spiel ist angezeigt, es waren schon zwei Pässe gespielt und dann kommen noch einmal drei Pässe hinzu. Der dritte Pass ist regelwidrig und damit ist auch das Tor regelwidrig erzielt worden."
Das in der ersten Reaktion gepfiffene Tor nach Ansicht der Videobilder zurückzunehmen, sei für die Schiedsrichter noch möglich gewesen, da das Spiel noch nicht fortgesetzt worden sei. "Nach dem Anpfiff des Anwurfs wäre eine Annullierung nicht mehr möglich gewesen", erklärt Scharoff.
Da es sich beim fünften Pass jedoch um eine Regelwidrigkeit gehandelt habe, wäre ein Einspruch möglich gewesen. Um diesen zu vermeiden, können die Schiedsrichter in den letzten 30 Sekunden des Spiels gemäß Punkt 9 der Regularien der EHF den Videobeweis diesen zu Rate ziehen, wenn die Schiedsrichter ernsthafte Zweifel an einem technischen Fehler eines Spielers haben, der ein Tor erzielt.
Im weiteren Verlauf wurde zudem die Spielzeituhr auf 59:43 - den Zeitpunkt, zu dem das regelwidrige Tor erzielt wurde - korrigiert. In einer aktuellen Stellungnahme weist die EHF daraufhin, dass dies ein Fehler war. Eine Korrektur der Spielzeituhr hätte laut des Verbandes "nur bei Fehlern des Zeitnehmers oder Fehlfunktionen der Spielzeituhr" erfolgen dürfen. Insofern hätte das Spiel mit einem Freiwurf für das schwedische Team bei 59:57 (dem Zeitpunkt, zu dem die Schiedsrichter die Spielzeit mit Time-out gestoppt hatten) fortgesetzt werden müssen.
"Nach der Entscheidung, das dänische Tor nicht anzuerkennen, wäre es richtig gewesen, das Spiel mit einem Freiwurf für Schweden bei 59:57 fortzusetzen, als das Spiel abgebrochen wurde", so der Verband, der allerdings ergänzt: "Beim Europäischen Handballverband ist nach dem Ende des Spiels kein Protest eingegangen. Daher werden keine weiteren Maßnahmen ergriffen."
Da die Spielzeit zurückgesetzt worden war, hatte Schweden mit seinem letzten Angriff beim Spielstand von 28:27 die Chance zum Ausgleich, nachdem das Tor für Dänemark nicht zählte.
Das Team von Glenn Solberg brachte den Ball zu Oscar Bergendahl, der durchsprang und traf. Der Torschiedsrichter pfiff allerdings sofort: Kein Tor, Abwurf. Hintergrund: Hampus Wanne, der eine Sperre für Bergendahl gesetzt hatte, habe im Kreis gestanden, wie der Schiedsrichter durch Handzeichen auch zu verstehen gab.
Aus Sicht von Jürgen Scharoff ist das eine zu überdenkende Auslegung - er verweist auf die Aktion von Abwehrspieler Simon Hald gegen Wanne, der den Schweden aus seiner Sicht deutlich in den dänischen Torraum schiebt. "Wanne stellt an der Torraumlinie eine regelgerechte passive Sperre, sein Mannschaftskollege will die Lücke nutzen und der Däne will den Ballführer stören", schildert Scharoff seine Wahrnehmung. "Ich kann von Wanne keine aktive Handlung erkennen, das war eine absolut korrekte Sperre."
Aus einem derartigen Abwehrverhalten kommt es aus Sicht von Scharoff meistens zu einem Freiwurf für die angreifende Mannschaft. "Allerdings sollte man in derartigen Situationen auch immer auf die Vorteilsregel achten; zumal dann, wenn die benachteiligte Mannschaft durch die Vorteilsgewährung zu einem Torerfolg kommen kann", ordnet Scharoff ein. "Selbstverständlich habe ich mir die Szene mehrmals angeguckt, auch in Zeitlupe. Aus meiner Sicht schiebt der Abwehrspieler den schwedischen Spieler in den Torraum."
Zusammengefasst: Nach dieser Auslegung hätte das Tor entweder - unter Berücksichtigung der Vorteilsregel - gewertet werden können oder es hätte einen Freiwurf für Schweden geben müssen.
Ein Check der kniffligen Situation im Videobeweis wäre sinnvoll gewesen, ist aber gemäß den bestehenden Regularien nicht machbar. In den Bestimmungen sind elf Situationen definiert, in denen der Videobeweis angewendet werden darf, doch diese Szene lässt sich darunter nicht einordnen. "Die Voraussetzungen für einen glasklaren Videobeweis sind nicht erfüllt", stellt Scharoff fest. "Ob sich hieran nochmal etwas ändern wird, muss die Zukunft zeigen. Zum Glück wird man ja immer schlauer."
jun