23.04.2024, 15:37
Bald der zweite Champions League-Titel?
Am 23. Oktober 2013 ging in Trier ein russischer Handball-Stern auf: Anna Vyakhireva debütierte für ihr Land in der EM-Qualifikation gegen Deutschland. Bei den Olympischen Spielen in Tokio gewann die vielfach dekorierte Rückraumspielerin Silber. Danach wurde es ruhig um sie. Nun sprach die heutige Spielerin von Vipers Kristiansand über die Gründe und ihre Rückkehr.
Ihr Leben habe sich seit der frühesten Kindheit in Handballhallen abgespielt, erzählt die heute 29-Jährige in der aktuellen "This is me"-Ausgabe der EHF. Ihr Vater Victor war Handballtrainer im Riesenreich Russland und die Familie, auch ihre ältere Schwester Polina, reiste immer hinterher. Rückblickend denke sie vor allem an "harte Zeiten", habe aber keine "schlechten Erinnerungen".
"Mein Vater ließ mich auf der Straße trainieren, unabhängig vom Wetter", erzählt die gebürtige Wolgograderin, die aus einer Region mit heißen Sommern und kalten Wintern stammt. Wenn um acht Uhr Schulbeginn war, habe sie um sieben Uhr "auf der vereisten Straße" trainiert. Das Gleiche nach Schulschluss, ihr Leben habe aus "70 Prozent Handball und 30 Prozent Schule" bestanden.
Die Kindheit ist Vyakhireva wichtig zu schildern, um zu verstehen, was nach den Olympischen Spielen in Tokio 2021 geschah. "Nichts war jemals gut genug für ihn", schildert sie den Vater, "aber es war mir recht." Ob ihre Erziehung zu streng gewesen sei? - "Ich weiß nicht, so war es eben." Über Handball sei derweil nicht viel gesprochen worden. "Das hätte in ständigem Streit geendet."
Mit 16 Jahren habe Anna Vyakhireva erkannt, dass sie Handballprofi werden wolle. Zwei Jahre später debütierte sie am 23. Oktober 2013 in Trier gegen Deutschland für Russland. Zuvor hatte sie bei Europa- und Weltmeisterschaften des Nachwuchses Silber und Gold errungen und war zweimal als MVP ausgezeichnet worden.
2016 folgte dann der Durchbruch bei den Olympischen Spielen - in einem Nationalteam, das sie als Kind "angebetet" habe, das ihr "Inspiration" gegeben habe. Fünf weitere Ehrungen als wertvollste Spielerin, national und international, sollten folgen, darunter bei den Olympischen Spielen 2020 (ausgetragen von 23. Juli bis 8. August 2021) und beim Final Four der EHF Champions League 2023.
Zwischen Sommer 2021 und - eigentlich - dem Saisonbeginn 2022 klafft eine auffällige Titel-Lücke im, durchweg dem Handball gewidmeten, Leben der heute 29-Jährigen. Was war passiert? - Nach dem Olympiasieg 2016 sei es schon einmal aus Vyakhireva herausgebrochen: "Du bist so glücklich über den Sieg, du bist müde, so viel Druck fällt von dir ab" - da könne man nur heulen.
Vyakhireva war gerade 21 Jahre alt. 2021 gelang der Coup erneut, sie wurde zum zweiten Mal Olympiasiegerin. Während der Olympiade, zwischen Rio und Tokio, war sie in Rostov am Don Teil "dieses riesigen Projekts" - allerdings misslang der Champions League-Triumph, mit hauchdünnen Finalniederlagen 2018 und 2019. Die erste "Corona"-Saison 2020/21 sei dann "chaotisch" gewesen.
Vyakhireva habe mit dem Gedanken gespielt, "den Handball nach den Olympischen Spielen 2020 zu verlassen", da sie glücklich mit dem Errungenen war. "Ich merkte, dass ich Dinge nicht machte, weil ich es wollte, sondern weil die Leute es von mir erwarteten." Sie habe den Handball nicht mehr genossen. Als die Spiele nach 2021 verschoben wurden, habe sie eben ein Jahr drangehängt.
Es sei eine Seuchensaison 2020/2021 gewesen, ein "einjähriger Kampf". "Mein Geist und mein Körper haben um Hilfe geschrien", schildert die russische Rückraumspielerin. "Mein Körper hat aufgegeben und ich war die meiste Zeit über verletzt. Ich habe mich unter so viel Druck gehalten, dass alles aufgegeben hat. Ich war ein Geist-Ich. Also habe ich aufgehört und bin gegangen."
Sie teile die Meinung überhaupt nicht, dass Russen, besonders Athleten nicht in sich hineinhörten. "Auf eine Art denke ich, dass es mein Fehler ist, dass ich mit Druck nicht so umgehen konnte wie ich sollte", so Vyakhireva. "Vielleicht bin ich nicht so stark, wie ich dachte." Nun nahm sie ihre Auszeit. "Ich habe das Leben genossen und mir Zeit genommen, neue Dinge zu erleben, habe Spanisch und Tanzen gelernt, auch wenn ich nicht lange drangeblieben bin."
Sie sei als "100 Prozent andere Anna" zurückgekommen, wagte den Schritt aus dem (sport-)politisch isolierten Russland ins norwegische Kristiansand, zu dem Klub, der Rostov 2021 im Viertelfinale der Champions League besiegt hatte. "Ich habe zwei Schritte zurück gemacht, um Dinge anders zu sehen und um auf dem rechten Weg zu kommen, um zu genießen" - statt jemandem nachzulaufen.
Den Wiedereinstieg schafft sie allerdings noch in Rostov, nachdem sie wegen einiger verletzter Spielerinnen um die Rückkehr gebeten worden war und im Training langsam wieder das Gefühl für den Ball entwickelte. Denn die Zeit davor sei ein "kompletter Detox" gewesen, ohne Gedanken an ihren Sport. "Das hat mich überrascht." Mit ihrer Rückkehr kehrte dann aber die Freude zurück.
Vyakhireva konnte man in der Mixed Zone, wo nach dem Abpfiff die Jourinalist*innen mit Fragen warten, stets als zugewandte und joviale Person erleben. Dass sie das immer noch ist, kann man aus dem "This is me" der EHF herauslesen. Nach Kristiansand zu wechseln, sei "die beste Entscheidung jemals" gewesen. Erstmals in ihrem Leben könne die 29-Jährige Handball und Privates kombinieren.
Mit den Vipers Kristiansand erfüllte sich auch Vyakhirevas Traum vom Gewinn der Champions League, gleich im Juni 2023. "Ich habe mich wahrscheinlich noch nie so gut auf einem Handballfeld gefühlt, war nie so froh, zum Training zu gehen", schwärmt sie. Zum neuen Lebensgefühl habe ein Psychologe beigetragen. Immer noch sei sie aber "etwas verloren", wenn Kinder ihr auf der Straße erzählen, dass sie sie vergöttern - sie fühle sich doch noch immer als das 20-jährige Mädchen.
Nun steht die "Perfektionistin", als die sie sich selbst bezeichnet, an den beiden nächsten Wochenenden erneut im Halbfinale der Champions League, die ihr Team seit 2021 dreimal gewann. Gegner ist Györ, der Seriensieger der 2010er-Jahre. Dass Vyakhireva mit 99 Treffern, knapp hinter Landsfrau Maslova, die zweitbeste Werferin der Königinnenklasse ist, sollte niemanden überraschen.
Felix Buß, mit Material von EHF