28.03.2024, 07:00
Talentcoach Carsten Klavehn im Interview
Wie sichtet der Deutsche Handballbund seine Talente? Im Interview gibt Talentcoach Carsten Klavehn einen Einblick in seine Arbeit - und spricht über die Sichtungsveranstaltungen, Auswahlkriterien und das Niveau des deutschen Nachwuchshandballs.
Jeweils 240 Jungen und Mädchen haben sich in Kienbaum dem Trainerteam des Deutschen Handballbundes vorgestellt - und jeweils 36 Talente pro Geschlecht wurden zum ersten Lehrgang der neuen Jugend-Nationalmannschaft eingeladen. Im Interview gibt Talentcoach Carsten Klavehn einen Einblick in seine Arbeit - und spricht über die Sichtungsveranstaltungen, Auswahlkriterien und das Niveau des deutschen Nachwuchshandballs.
Wie würden Sie das Niveau der Nachwuchsspieler:innen einschätzen, welche die Landesverbände in diesem Jahr vorgestellt haben?
Carsten Klavehn: Vergleiche sind immer wahnsinnig schwierig, deshalb habe ich es mit abgewöhnt, die verschiedenen Jahrgänge zu vergleichen. Wir müssen die Sichtung jedes Jahr neu angehen und uns angucken, wer die Stärksten im jeweiligen Jahrgang sind. Und da wir international ja in Doppeljahrgängen spielen, vergleicht sich das am Ende von alleine. Alles andere wird den Jugendlichen nicht gerecht.
Wie meinen Sie das?
Die Ausgangsposition jedes Jahrgang ist anders und deshalb lässt es sich nicht vergleichen. Bei den Jungen haben wir in diesem Jahr den Jahrgang 2008 gesichtet, das ist eine neue Nationalmannschaft, die entsteht. Die Mädchen des Jahrgangs 2009 stoßen zu den bereits vor einem Jahr gesichteten Spielerinnen des Jahrgangs 2008 dazu.
Wir haben also schon ein Bild von den Spielerinnen dieser Auswahlmannschaft im Kopf und im ersten Impuls kommen die 2009er-Spielerinnen da natürlich nicht heran. Dabei sind sie eigentlich so weit und vielleicht sogar weiter, als es die 2008-Spielerinnen ein Jahr zuvor waren.
Daher vergleiche ich ungern im Jetzt, sondern wir suchen einfach die stärksten Spieler:innen bzw. die Spieler:innen mit dem größten Potenzial in jedem Jahrgang - und am Ende sehen wir bei jeder Meisterschaft, wer es in den Kader schafft.
Und durch diesen direkten Vergleich im Konkurrenzkampf um Kaderplätze lässt sich das Niveau der Spieler:innen natürlich ablesen…
Das ist ein sehr spannendes Thema - gerade, wenn man mit Bildern aus den Lehrgängen der älteren Jahrgänge zum jüngsten Jahrgang kommt. Das erdet einen und das meine ich nicht negativ. Als Trainer muss man sich so immer wieder selbst kalibrieren, denn es ist eben doch schwierig, keine Vergleiche anzustellen. Dennoch müssen wir bei den Sichtungen der aktuellen Jahrgänge immer so fair sein, bei Null zu beginnen und uns die Spieler:innen anzugucken, die uns am meisten auffallen. Neben der aktuellen Leistungsstärke müssen wir bei der Bewertung auch immer das Potenzial einfließen lassen.
Inwiefern?
Es ist unsere Hauptaufgabe, die Spielerinnen und Spieler zu finden, die 2032 für uns in Brisbane spielen. Das hört sich sehr weit weg an, aber auch dran müssen wir immer denken. Wer könnte in vier, sechs, acht Jahren ein interessanter Spieler sein? Und das sind nicht immer die besten Spieler im aktuellen Moment, sondern wir müssen die Potentiale der Spieler sehen.
Natürlich müssen wir auch das Jetzt beurteilen, denn wir wollen niemanden für eine frühe Entwicklung bestrafen, aber wir müssen uns auch die Spieler:innen anschauen, die unserer Meinung nach eine Perspektive haben, aber jetzt vielleicht noch nicht so weit sind. Das ist eine sehr spannende Aufgabe, die jedes Jahr neu beginnt.
Der Deutsche Handballbund sichtet jedes Jahr über 450 Spielerinnen und Spieler. Jochen Beppler hat einmal gesagt, dass Sie in der Lage sind, die Spielerinnen und Spieler unheimlich schnell auseinanderzuhalten, sobald Sie diese bei den motorischen Tests zu Beginn der Sichtung gesehen haben. Wie machen Sie das?
Die unterschiedlichen Trikots helfen ein bisschen (lacht). Nein, im Ernst: Ich habe tatsächlich die Fähigkeit, dass ich die Jugendlichen schnell auseinanderhalten sowie Namen und Gesichter zueinander ordnen kann. Warum das so ist, kann ich nicht erklären.
Ich stelle mir das hilfreich vor, wenn man aus jeweils 240 Kandidat:innen nur 36 Talente auswählen darf…
In der Regel identifizierst du die leistungsstärksten Spielerinnen und Spieler relativ schnell. Einige von ihnen sind oft schon beim Deutschland-Cup mit dem älteren Jahrgang dabei gewesen. So hat man die ersten Kandidaten sehr schnell im Auge. Und dann bildet sich eine großen Gruppe an Spielern, die auf einem ähnlichen Niveau sind, wo am Ende Nuancen den Ausschlag geben.
Wir sehen ein gewisses Potenzial, glauben, dass er oder sie uns auf dieser oder jener Position helfen kann oder sagen uns: Wir nehmen jetzt die eine, aber nächstes mal schauen wir uns die andere an. In dieser großen Gruppe geht es darum, Details gegeneinander abzuwägen. Das kann kein Trainer für sich alleine, daher entscheiden wir immer in der Gruppe. Wir sind bewusst mit vielen Leuten vor Ort, denn dann gibt es viele Meinungen und das ist gut so, um am Ende die bestmögliche Entscheidung zu treffen.
Können Sie beispielhaft ein Detail nennen, was vielleicht den Ausschlag geben kann?
Wenn ich das jetzt mache, bekomme ich das nächstes Jahr vorgehalten (lacht). Es lässt sich wirklich schlecht quantifizieren, denn es ist immer ein Konglomerat aus mehreren Dingen. Die Talente, für die wir uns entscheiden, haben nicht nur ein Attribut oder Merkmal, das sie auffällig macht - es ist vielmehr ein Gesamtbild aus verschiedensten Mosaiksteinen.
Was wären das für Mosaiksteine?
Der eine Spieler hat eine hohe Spielfähigkeit und kann das Spiel lesen, der nächste hat eine enorme Wurfkraft und der Dritte ein enorme Qualität in der Abwehr. Wir gucken uns das Abwehr- und Angriffsspiel sowohl individuell als auch kooperativ an. Wir gucken auf die Eins-gegen-Aktionen von Rückraumspielern oder auf die Flugphasen von Außenspielern.
Wir wollen sehen, was sie in der Abwehr können: Können sie Dinge antizipieren? Stellen sie sich richtig? Können sie in Räumen verteidigen und den Gegenspieler unter Druck setzen? Und das sind längst nicht alle Punkte. Ich kann und will daher kein einzelnes Attribut herauspicken, was am Ende entscheidend sein mag. Was hingegen nicht pauschal entscheidend ist …
Ja?
… ist die Trefferquote. Viele Spieler denken zunächst, dass wir sie nicht nehmen, weil sie von drei Würfen nur einen getroffen haben. Natürlich achten wir auch darauf, wie oft jemand trifft, wenn er frei vor dem Tor ist, aber wir führen keine Strichliste, die am Ende den Ausschlag gibt. Wir fragen uns stattdessen: Wie hat er sich diese Chance erarbeitet? Wie springt er - wenn wir beim Außenspieler bleiben - in den Torraum rein und rollt er ab?
Die Torerfolge haben also sicherlich eine kleine Wertigkeit, aber sie sind nicht das entscheidende Kriterium, denn es kann ja auch sein, dass der Torwart einfach richtig gut gehalten hat. Und so ärgert sich der Spieler über zwei vergebene Würfe, während wir stattdessen die drei guten Aktionen positiv bewerten, die ihn überhaupt erst in die Wurfsituation gebracht haben.
Zusammenfassend lässt sich vielleicht sagen: Dass ein Spieler eine Sache besonders gut kann, reicht nicht, sondern er braucht eine breite Ausbildung?
Eine breite Ausbildung ist sicherlich wichtig, aber sie alleine wird nicht reichen. Ein Spieler braucht ein, zwei Merkmale, die ihn auszeichnen - wie seine Schlagwurfvarianten oder ein starkes Eins-gegen-Eins. So ein Merkmal ist ein Pluspunkt.
Sie haben eben selbst gesagt, dass es durchaus viele Meinungen gibt. Wie weit klaffen diese Meinungen in der Besprechung auseinander?
Völlig unterschiedlich sind wir in der Einschätzung in der Regel nicht. Dass ein Trainer einen Spieler super findet und ein anderen ihn für, entschuldige den Ausdruck, grottenschlecht hält, kommt nicht vor. Wir sind uns in der Tendenz oft einig, aber dann geht es um die Nuancen - wohlwissend, dass es eben diese große Gruppe an Spielern gibt, die sich mit unterschiedlichen Ausprägungen ähnlich sind.
Und darüber diskutieren wir dann schon, aber genau deshalb sitzen wir ja auch zusammen. Wir sehen unterschiedliche Stärken und dieser subjektive Faktor ist wichtig. Und auch, wenn jeder vielleicht eine andere Richtung hat, in die er denkt, ändert das nichts daran, dass wir sagen: Das ist ein interessanter Spieler!
Und wer trifft am Ende die Entscheidung?
Die finale Entscheidung sprechen die Jahrgangstrainer aus, aber das ist im Vorfeld mit vielen Gesprächen verbunden. Die Nominierungen basiert auf den Eindrücken aller Sichter.
Bei der Sichtung wird von Ihnen und Ihren Trainerkollegen immer wieder betont, dass dies nur der Anfang ist und Sie die Spieler auch danach im Blick behalten. Wie interessant ist es trotzdem zu sehen, wie die Spieler mit dem Druck umgehen, sich vor euch zeigen zu dürfen?
Das ist total spannend. Wir versuchen schnell - gerade durch die sportmotorischen Tests, wo sie am ersten Tag an allen von uns vorbeimüssen -, einen gewissen Kontakt aufzubauen, denn wir wollen den Spieler:innen vermitteln: Zeigt uns einfach das, was ihr könnt. Natürlich sind dennoch einige dabei, die sich sehr unter Druck setzen. Es gibt auch immer wieder Spieler:innen, die vom Elternhaus, den Vereinen oder ihren Trainern hochgelobt werden und es dann bei uns vom Kopf nicht schaffen. Es gibt aber auch genug, die das schaffen - und einige haben drei wirklich super Tage bei uns und fallen dadurch auf.
Wie geht ihr damit um, wenn ein Spieler oder eine Spielerin offenbar nicht mit dem Druck umgehen kann? Denn für die Jungen und Mädchen ist es ja oft ein großer Traum, in den sie viel investiert haben…
Wenn sich jemand Druck macht, dann ist ihm oder ihr das wichtig und das ist erst mal ein gutes Zeichen. Manche Spieler:innen müssen erst lernen mit Druck umzugehen und gute Leistungen abzurufen, das wissen wir, können es einordnen und bearbeiten. Dafür ist es auch interessant zu wissen das der Sichtungsprozess kein Zeitpunkt ist, sondern ein Zeitraum. Ein Ende gibt es eigentlich nicht, wir haben stattdessen oft erlebt, dass Talente erst bei den Junioren dazustoßen, weil sie sich später entwickeln. Auch für diese Spieler ist Platz in den Nationalmannschaften und das ist uns wichtig.
Sie haben als Talentcoach des Deutschen Handballbundes nahezu jedes deutsche Talent in den letzten Jahren gesehen. Was macht den deutschen Nachwuchshandball aus Ihrer Sicht aus?
Ich glaube, dass wir uns an vielen Stellen nicht so klein reden müssen wie es einige tun. Denn das Konstrukt aus den kleinen Vereinen und den Leistungszentren in Verbindung mit den Landesverbänden, der Trainerausbildung, der Rahmentrainingskonzeption und dem Trainerstab des Deutschen Handballbundes funktioniert.
Es ist ein gutes Zusammenspiel zwischen all diesen Parteien und ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich die engagierten Menschen in den kleinen Vereinen erwähnen. Sie machen einen tollen Job und legen den Grundstein für eine sehr gute Ausbildung, welche die Leistungszentren der Bundesligisten in einer hohen Qualität fortführen.
Wir sind - das zeigen auch die Ergebnisse - im internationalen Nachwuchshandball konkurrenzfähig und es schauen viele andere Nationen auch in unsere Richtung. Wo es sicherlich eine Gap gibt, ist die Zeit zwischen dem Abitur und dem Alter von 23, 24 Jahren. Ich will als Nachwuchstrainer jetzt auf niemanden mit dem Finger zeigen, das wäre nicht richtig. Die Jungs und Mädels müssen sich mit ihrer Leistung durchsetzen, aber die die Grundlagen, die sie vermittelt bekommen - durch gute Ausbildungsvereine und die Leistungszentren - ist in Europa auf einem absolut gutem Niveau.
Apropos Gap: Während der Corona-Pandemie war es eine eine große Frage, was die Zwangspause mit der Jugendausbildung machen wird. Die Spieler:innen, die sie dieses Jahr gesichtet haben, waren bei der Unterbrechung in der D-Jugend. Was lässt sich festhalten?
Es ist ein Fakt, dass dieser Jahrgang aufgrund der Pandemie in vielen Fällen über mehrere Monate nicht normal trainieren konnte, während die älteren Jahrgänge über die Kaderzugehörigkeit mit Ausnahmeregelung trainieren durften. Auf der anderen Seite sind die Spielerinnen und Spieler aber auch schon seit zweieinhalb Jahren wieder im regelmäßigen Training. Ich möchte daher kein Urteil fällen, ob sie ohne Corona weiter wären.
Zumal: Wir sehen hier nur die hochbegabten Spieler. Diejenigen, die aufgehört haben oder denen die Pause geschadet hat, kommen bei uns nicht an. Es wäre daher eher interessant zu sehen, aus wie vielen Spielern die Kreise und Bezirke für ihre Auswahlmannschaft wählen konnten, um zu sehen, ob die Pandemie quantitative Auswirkungen hatte, aber das ist schwer zu evaluieren. Eigentlich will ich das Thema aber gar nicht aufmachen.
Dann wechseln wir das Thema und blicken stattdessen nach vorne: Was würden Sie sich wünschen für den Nachwuchshandball?
Es gibt sicherlich viele Tendenzen im Welthandball. Deshalb sind auch die Trainer der A-Nationalmannschaften bei den Sichtungen vor Ort, sodass wir stetig aktuelle Hinweise aus dem Aktivenbereich erhalten. Die Kunst ist es dann, darauf basierend die Idee zu entwickeln, was unsere Talente können müssen. Dafür müssen wir antizipieren, was im Welthandball passieren wird, denn wenn diese Jugendlichen im Welthandball ankommen, ist das Standard, was heute noch neu ist.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir haben in den letzten drei Jahren das Tempospiel verstärkt eingebaut, ebenso das aktivere Verteidigen auch aus einer 6:0-Abwehr heraus. Damit haben wir nicht so schlecht gelegen, die Jungen des Jahrgangs 2006 waren beim EYOF top im Tempospiel nach vorne und hinten. Und die Mädchen hatten während der Europameisterschaft mit mutigem Abwehrspiel viele Ballgewinne. Wir stellen uns daher immer wieder die Frage: Was können wir bei uns schulen, damit unsere Spieler:innen in fünf oder sechs Jahren bei den Aktiven spielen können?
Abschließend: Wenn Sie einem jungen Handballer, der die Sichtung noch vor sich hat und von einer Karriere in der Bundesliga und Nationalmannschaft träumt, einen Ratschlag mitgeben würden: Welcher wäre das?
Es gibt aber keine Faustformel, aber ich würde ihm oder ihr sagen: Sei fleißig und mutig! Es gibt so viele Spieler:innen, die diesen Weg gehen wollen, aber der entscheidende Punkt für den Erfolg ist der eigene Antrieb. Wer diesen Schritt machen will, muss gerne ins Training gehen und sich in jedem Training verbessern wollen. Das meine ich mit Fleiß. Und warte nicht darauf, dass der Trainer alles diktiert, sondern sei mutig und probiere Dinge aus.
Ich sehe das bei meinem zwölfjährigen Sohn: Er stellt sich in die Halle und übt Dreher. Das zeigt einem in diesem Alter kein Trainer, das hat er sich über Social-Media-Clips und bei Bundesligaspielen abgeguckt. Es gibt so viele Spielertypen, bei denen man sich Dinge abschauen kann - und dann man muss eben einen Tick mehr machen als andere, wenn man es wirklich will. Alleine üben, einen Jahrgang höher mittrainieren oder möglicherweise eine andere Sportart parallel machen, um andere Bewegungsmuster zu schulen.
Und natürlich braucht man das Glück, einen guten Trainer zu haben. Das ist aber nicht der wichtigste Punkt - der wichtigste Punkt ist der eigene Willen. Und ich sehe viele Kinder und Jugendliche, die wollen und bereit sind, viel zu investieren. Von diesem Standpunkt her müssen wir uns um die deutsche Handballjugend keine Sorgen machen.
jun